Es gibt einen Moment am Anfang von Assassin’s Creed Origins, in dem Bayek seinem Freund und ebenfalls Beschützer von Siwa Hepzefa zur Hilfe eilt, als dieser von einer Gruppe Soldaten überfallen wird. Nachdem sie ihre Feinde ausgeschaltet haben, umarmen Bayek und Hepzefa einander, feiern ihren Sieg, steigen auf ihre Kamele und reiten los nach Siwa. Es handelt sich um einen relativ kurzen Moment in Bayeks epischer Reise und doch hat er mir die Tränen in die Augen getrieben.
Als Ägypter, der in den Vereinigten Staaten geboren wurde und auch dort aufgewachsen ist, bin ich es gewöhnt, ein Außenseiter zu sein, der einzige im Raum. Hin und wieder fühlt sich meine Identität wie eine Kuriosität an und ich werde zu dem Ägypter, den jeder kennt. In meiner Jugend wirkte die Darstellung von Ägyptern in westlichen Medien für mich immer wie eine Karikatur. „Ägypten“ wird oft reduziert auf Pyramiden, Mumien und Kamele. Ägypter sind selten Hauptdarsteller und werden meistens zu Rollen von Nebendarstellern oder Bösewichten degradiert, selbst in Geschichten, die in unserem eigenen Land spielen. Deshalb weinte ich, als ich zum ersten Mal Bayek und Hepzefa gemeinsam auf dem Bildschirm gesehen habe. Zum ersten Mal sah ich nicht nur einen, sondern sogar zwei Ägypter gleichzeitig auf dem Bildschirm. Ihre Hautfarbe wurde respektiert, sie waren nicht nur Besucher in Ägypten und sie waren auch keine Bösewichte. Sie waren zwei ägyptische Helden, die ihr Zuhause verteidigten. Was mir besonders viel bedeutete, war die Art und Weise, wie die Szene im Spiel dargestellt wurde. Es wurde keine große Sache daraus gemacht. Indem die Geschichte Bayeks und Hepzefas Sieg und sogar ihre ganze Existenz als normal darstellte, schaffte sie die Vorraussetzungen für ein Spiel, das Ägypter respektvoll und nuanciert behandelt.
Es war ein befreiender Moment, als würde meine Identität plötzlich angenommen und gefeiert werden. Über die folgenden 100 Stunden mit Assassin’s Creed Origins und seinen drei Erweiterungen war ich hocherfreut, ein Spiel zu entdecken, dass nicht nur in Ägypten spielte, sondern auch mit dem Kopf voran in die Kultur, Religion und die Lebensweise der Ägypter auf eine Weise eintauchte, die diese Welt authentisch wirken ließ. Kulturelle Repräsentation auf diesem Niveau ist schwer zu erreichen. Um herauszufinden, wie Origins eine so realistische Darstellung gelang, habe ich mich direkt mit dem Entwicklerteam unterhalten, das mir erklärte, wie es diese Welt zum Leben erschaffen hat.
Um eine authentische Version vom antiken Ägypten zu erschaffen brauchte es eine ganzheitliche Herangehensweise. „Die Welt und die Epoche beeinflussen alles andere“, erklärt Creative Director Jean Guesdon. „Alle unsere Teams haben viel über diese historische Zeitspanne gelernt. Ob im Audio, der Animation, dem Narrative oder dem Level Design: alle Teams müssen den historischen Kontext so gut wie möglich verstehen, damit jeder etwas beitragen kann. Mithilfe von kleinen Details fühlt es sich echt an.“
Indem die Entwickler sichergingen, dass alle Entwicklerteams mit ägyptischer Geschichte vertraut sind, konnten sie die Kultur in mehr als nur die Umgebung integrieren. „Ein wichtiger Punkt für uns war das neue Quest-System“, erzählt Guesdon. „Die Scriptautoren haben tatsächlich eng mit den regionalen Teams zusammengearbeitet. Die regionalen Teams kontrollierten gleichzeitig die Welt und die Quests in dieser Welt. Die Scriptwriter und das Narrative-Team wurden in diese Regionen eingebaut. Wir wollen uns entfernen von den zufälligen Missionen der vorherigen Spiele und lieber bedeutungsvolle Geschichten ansteuern. Wir wollten Spielern die Gelegenheit geben, Leute zu treffen und so ein besseres Verständnis des Schauplatzes zu bekommen.“
Dieser neue Fokus auf persönlicherem Storytelling ermöglichte den Scriptwritern, die ägyptische Kultur in die Basis von fast jedem Quest einzubauen. “Die Quests und die NSC (Nicht-Spieler-Charakteren) haben ihre eigenen, persönlichen Geschichten, um eine Verbindung zwischen den Spielern und dem antiken Ägypten aufzubauen. Es ist nicht nur eine Sandbox, durch die man reist. Das meiste lernt man über diese Epoche durch die Menschen, die man trifft. Genau wie im echten Leben.“, sagt Guedson. „Wenn ich reise werden die Erinnerungen, die ich von einem bestimmten Ort habe stark von den Leuten, die ich getroffen habe beeinflusst.“
Spieler entdecken die Welt in erster Linie durch Bayek selbst. Die meiste Zeit des Spiels ist Bayek kein Assassine. Er muss sich nicht im Schatten verstecken oder sich unter die Menge mischen. Bayek ist ein Medjay, ein Beschützer Ägyptens und seines Volkes. Deshalb setze ich nie Bayeks Kapuze auf: er ist ein sympathischer, fürsorglicher Mann, der seine Pflicht, dem ägyptischen Volk offen zu helfen, annimmt. Außerdem wollte ich nicht die eine Videospielfigur vermummen, die so aussieht wie ich. Obwohl Bayeks Reise voller Rache, politischem Aufruhr und Bürgerkrieg ist, wirkt es dank seiner Persönlichkeit und liebevollen Natur nie unpassend, wenn er sich die Zeit nimmt, mit den Kindern der Gegend zu spielen.
Bayek alleine kann die Kultur einer gesamten Zivilisation nicht verkörpern, aber da kommen die gut durchdachten Nebenquests von Assassin’s Creed Origins ins Spiel. Sie bieten Möglichkeiten für den Spieler, mehr über die Zivilisation des antiken Ägyptens zu lernen, durch innige Momente mit anderen Charakteren. Bayeks eigener Sohn Khemu ist ein perfektes Beispiel. Der Quest „Bayeks Versprechen“ fordert den Spieler auf, 12 verschiedene Steinkreise in der ganzen Welt zu finden. Wenn einer dieser Kreise gefunden wird, wird ein Flashback ausgelöst von einem Gespräch zwischen Bayek und Khemu, die gemeinsam die Sterne betrachten. In diesen Gesprächen werden Themen angesprochen, wie Liebe, Familie und Verlust und jedes hat eine Verbindung zu einer bestimmten, ägyptischen Gottheit, die in einer Sternenkonstellation repräsentiert ist. Bayeks väterlicher Rat fühlt sich zu jeder Epoche relevant an, aber im Kontext des ägyptischen Pantheons bekommt man einen zusätzlichen Einblick in die Kultur und den religiösen Glauben der Familie.
Ein weiteres Beispiel eines persönlichen Moments, der den Spieler mit der ägyptischen Kultur verbindet, ist ein Ritual, das man Bayek mehrmals ausführen sieht. Während Bayek methodisch jedes seiner Ziele auslöscht wischt er ihr Blut mit einer Feder ab. Das Rituial wird nach fast jedem Mord ausgeführt, aber man erfährt den Kontext in der ägyptischen Gesellschaft nur durch einen freiwilligen Nebenquest. In „Die Braut“ trifft Bayek auf eine Frau, die an einer Klippe steht und um ihren verstorbenen Mann trauert. Während sie in Erwägung zieht, Selbstmord zu begehen erzählt sie Bayek, dass sie und ihr Mann oft auf der Klippe saßen und Reiher beobachteten. In einem Versuch, die Frau zu trösten, gibt Bayek ihr eine Reiherfeder. Wenn sie ihn fragt, warum er ihr diese Feder gibt, erwidert er: „Das ist ein Ritual aus Siwa. Federn bedeuten uns viel. Nach dem Tod wägt Anubis unsere Herzen gegen Maats weiße Feder ab. Deines. Meines. Das unserer Lieben.“. Während man die Frau erfolgreich von der Klippe herunterführt wird der tatsächliche Sinn hinter dem Ritual, das Bayek (und viel später Altair) nach jedem Mord vollzieht, offenbart. Das Wiegen der Herzen ist ein wichtiges Konzept des Lebens nach dem Tod im antiken Ägypten und wurde dank eines kurzen und doch kraftvollen Moments mit einem Charakter tief in die Geschichte von Assassin’s Creed Origins eingeflochten.
Die Wichtigkeit von Religion und Riten im Alltag wird immer wieder betont. In einem der eher herzreißenden Hauptquests wird ein junges Mädchen namens Shadya von einem von Bayeks Zielen, bekannt als das Krokodil ermordet. Ab diesem Punkt in der Geschichte wird ein freiwilliger Nebenquest namens „Shadyas Ruhe“ freigeschaltet, in dem die Auswirkungen von Shadyas Tod auf ihre Eltern Hotephres und Khenut gezeigt werden. Es ist eine Situation, die jene von Bayek und Aya wiederspiegelt: zwei Eltern, die den Tod ihres jungen Kindes ertragen müssen. Hotephres und Khenut jedoch schlagen nicht den Weg der Rache ein, sondern drücken ihren Kummer auf eine eher niedergeschlagene Art und Weise aus. Durch ihre Trauer auseinandergetrieben, sucht Hotephres Trost in der Flasche und in den Armen einer anderen Frau. Khenut hingegen hat die Trauer in einen regelrecht katatonischen Zustand versetzt. Erst als Beyek dabei hilft, ein Bestattungsritual aus Siwan auszuführen, können die beiden wirklich mit dem Heilungsprozess beginnen. Dieser düstere Quest akzeptiert Schmerz und Elend auf eine Weise, die in jeder Zeit und jeder Kultur glaubwürdig ist. Trotzdem lernen wir durch Bayeks Sicht die Bedeutung von richtigen Bestattungsriten im antiken Ägypten.
Während viele Quest durch innige Beziehungen die ägyptische Kultur erklären, dienen einige Quests der Veranschaulichung von größeren, gesellschaftlichen Problemen im ptolemäischen Ägypten. Als Bayek in „Die Krankheit“ auf eine Gruppe Bauern trifft, die Leichen verbrennen, ist er schockiert über ihre blasphemische Methode, Tote zu beseitigen. Wir lernen, dass Einäscherung eine ungeeignete Handhabung von Toten in Ägypten ist während Bayek erfährt, dass die Leichen Krankheiten verbreiten könnten und verbrannt werden müssen, um die überlebenden Bauern zu schützen. Nach längerer Nachforschung erkennt Bayek, dass die toten Bauern durch eine verdorbene Nahrungsquelle vergiftet wurden. Als Bayek den Schuldigen findet, deckt er auf, dass ein Händler die armen, unter der Steuerlast leidenden ägyptischen Bauern vergiftet hat, um nach ihrem Tod ihr Land an reichere Griechen abzugeben. Es ist ein relativ kurzer Quest, aber er hilft, die Beziehung zwischen Griechen und Ägyptern zu erklären und zu zeigen, dass Ägypter im ptolemäischen Ägypten in ihrem eigenen Land oft wie Bürger zweiter Klasse behandelt wurden.
Dies sind nur kleine Beispiele, wie Assassin’s Creed Origins die Kultur des antiken Ägyptens in fast jeden Quest einwebt und damit komplexe Charaktere mit unvergesslichen und persönlichen Geschichten präsentiert. Irgendwo braucht ein Bauer Hilfe beim Düngen seines Feldes, bevor er einem behilflich sein kann. Ein Mann bittet um Unterstützung beim Einsammeln von Leichen nach einem Nilpferdangriff. Ein alter Gladiator muss lernen, seinen Ruhestand zu akzeptieren. Der Kern von Assassin’s Creed Origins fühlt sich authentisch an, weil seine Menschen glaubwürdig sind: sie haben realistische Emotionen, Motivationen und Reaktionen. Sie müssen sich um die Ernte kümmern, um Liebende trauern und Natron sammeln. Sie brauchen Bayek nicht, um ihr Leben zu führen und die Welt wirkt so viel reicher, weil nicht dafür verantwortlich ist, ihre Existenz zu rechtfertigen.
Wenn ich über meine Zeit in Ägypten zurückdenke, denke ich nicht an Pyramiden und Kamelritte. Ich erinnere mich an Schmuckhersteller, die silberne Armreifen verkauften, an den Geruch des Karrens, der Ful Medamas servierte und an das Geräusch von Kindern, die Fußball spielten. Ägypten begrenzt sich nicht auf seine Monumente, es wird ausgemacht von seinen Menschen und ihrer Kultur. Das Ergebnis einer ganzheitlichen Vorgehensweise, um ägyptische Kultur zu verstehen und einzubauen ist, dass die Welt von Assassin’s creed Origins nicht nur echt aussieht, sondern sich auch echt anfühlt.
Für mich ist Assassin’s Creed Origins mehr als nur ein Spiel. Es repräsentiert und bestätigt meine Identität und macht ihr Platz in einem Medium, das ich liebe.
(Anmerk. v. Chris Geißler: An dieser Stelle darf ich mich erneut bei meiner Kollegin Valerie Buys bedanken, die mich bei der Übersetzung dieser Nachricht während meines Urlaubs unterstützt hat.)
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