Die Welt der Spiele ist bunt, innovativ und vielseitig. Wie originell die Gamingbranche tatsächlich ist, zeigt erst der Blick hinter den Controller: Wir laden Dich ein zu #WeAreAllGaming – einer Serie mit ausführlichen Porträts verschiedener Persönlichkeiten, die ihren Platz in der Gamingbranche gefunden haben. Sie modellieren sich als Spielfiguren oder verdienen als Pro-Gamer ihren Lebensunterhalt. Sie schreiben ganze Bücherreihen über Pixelwelten oder therapieren Schwerkranke mit Videospielen. Sie alle sind Teil einer Gemeinschaft – sie alle sind Köpfe von #WeAreAllGaming.
Gefestigter Stand im Aufenthaltsraum, der Blick gebannt auf den TV, im Gesicht ein verschmitztes Lächeln: So steht ein älterer Herr vergnügt vor dem Bildschirm und trainiert spielerisch seine kognitiven Fähigkeiten. Allein durch minimale Gewichtsverlagerungen steuert er mit Hilfe der Kinect-Technik ein Motorrad, das auf dem Bildschirm vor ihm zu sehen ist. Gekonnt bewegt er das Motorrad im Videospiel über die Straßen und weicht Hindernissen aus, was die euphorischen Zuschauer um ihn herum ausgiebig bejubeln. Das ist nur eine Art, wie Videospiele des Unternehmens Retro Brain in Altersheimen eingesetzt werden – das Ziel aber ist immer dasselbe: kranken Menschen mit Spieltechnologie zu helfen.
Für Retro Brain-Mitgründer Manouchehr Shamsrizi ist dieses Ziel eine Herzenzangelegenheit. Shamsrizi wusste bereits früh, dass er seine Energie und seinen Enthusiasmus in Projekte mit gemeinnützigen Zielen stecken möchte. Projekte, in denen ein sozialer Allgemeinnutzen durch technologische Innovation erreicht werden soll.
Seitdem Manouchehr Shamsrizi seine Firma Retro Brain 2014 aus einem Studienprojekt der Yale University gründete, entwickelt er mit Hilfe der Kinect-Technologie von Microsoft eigene Videospiele, die Alzheimerpatienten durch Bewegung, kognitive Übungen und soziale Inklusion helfen.
Wie unterstützt man Menschen dabei, zu interagieren und sich trotz Einschränkungen am sozialen Leben zu beteiligen? Diese und weitere Fragen spielen im Leben von Shamsrizi eine ähnlich große Rolle wie seine Leidenschaft für Videospiele und Gamification. Er weiß, dass der Spieltrieb des Menschen ein in die Wiege jedes Menschen gelegtes natürliches Grundbedürfnis ist – mit heilender Wirkung. Dabei bezieht sich Shamsrizi häufig auf den „Homo Ludens“, dem Modell des spielerisch lernenden Menschen. Nie um einen guten Spruch verlegen, zitiert er hier auch mal Friedrich Schiller: „Der Mensch ist nur dort ganz Mensch, wo er spielt“.
Genau dort setzt Shamsrizi mit seinem Start-Up an: Er möchte Patienten mit seinem Team spielerisch dazu motivieren, sich aktiv und gesund am sozialen Leben zu beteiligen.
Von Yale über Cambridge nach Hamburg
Shamsrizis Werdegang liest sich beeindruckend: Ariane de Rothschild Fellow der University of Cambridge, Global Justice Fellow der Yale University, Global Sharper des Weltwirtschaftsforums. Das sind nur einige Auszeichnungen, die er bereits erhalten hat.
Fragt man Shamsrizi nach seiner Berufsbezeichnung, würde er antworten mit Schlagworten wie Unternehmensgründer, politischer Philosoph, Soziologe, Journalist. Wer sich einmal mit ihm unterhält und versteht, was ihn antreibt und welche Herausforderungen er tagtäglich zu bestehen hat, weiß, dass dies keine bloßen Worthülsen sind. Shamsrizi ist ein Allrounder und vielseitig interessiert. Prägende wissenschaftliche Erkenntnisse und gesellschaftlicher Fortschritt sind dem 29-jährigen wichtiger als persönliche Eitelkeiten. Mit empirischer Präzision arbeitet er an technologischen Lösungen, die er mit seinem Hamburger Unternehmen Retro Brain öffentlich nutzbar macht. Wir haben mit Manouchehr Shamsrizi gesprochen.
Manou, bitte beschreibe zunächst die Kernidee deines Unternehmens in wenigen Sätzen.
Wir bei Retro Brain arbeiten an neuartigen Konzepten, um Demenz zu bekämpfen – eine Krankheit, die die Weltgesundheitsorganisation als „Geißel der Menschheit im 21. Jahrhundert“ bezeichnet. Dazu entwickeln wir Videospiele auf wissenschaftlicher Grundlage. Das erste Produkt in diesem Kontext ist unsere Spieleplattform „Memore Box“. Einmal an einen handelsüblichen Fernseher angeschlossen, steuert man über Gesten verschiedene computerbasierte Trainingsprogramme. Gewährleistet wird diese Gestensteuerung über die Kinect-Technologie von Microsoft, mit der man dann beispielsweise Games wie Kegeln, Tischtennis und Motorrad-Fahren absolvieren kann.
An welchen Projekten arbeitet ihr momentan?
Nachdem wir ursprünglich aus dem Anti-Alzheimer-Bereich kamen, haben wir in den letzten Monaten immer mehr Berührung mit verwandten Themen gehabt. Viele Menschen aus der Gesundheitsszene kamen aktiv auf uns zu und fragten: „Könnt ihr nicht das, was ihr da entwickelt habt, auch in anderen Bereichen anwenden?“ Wir konzipieren beispielsweise gerade mit der Klinikgruppe Bad Segeberg in Schleswig-Holstein eine Sonderedition der Memore Box für den Einsatz bei Parkinson-Patienten. Außerdem machen wir mit dem European Medical Campus eine Edition für den Einsatz bei Schlaganfallrehabilitation. Und mit der Berliner Charité machen wir eine Edition zum Einsatz der geriatrischen Komplexbehandlung. Wir sind gut beschäftigt.
Beschreibe mal an einem Bespiel, wie Videospiele einen Mehrwert bei der Behandlung von Menschen bringen.
Ein gutes Beispiel ist die Sturzprävention. Gerade im höheren Alter stürzen Menschen und brechen sich dabei häufig Knochen oder ähnliches. Das Resultat ist eine monatelange Genesung mit anschließender Reha, Muskelaufbau und so weiter. Im Gespräch mit einem traditionellen Arzt würde er zur Sturzprävention sicherlich das Übliche sagen: „Bewegen Sie sich mehr, bewegen Sie sich auf eine bestimmte Art und Weise jeden Tag ein paar Minuten, dann stürzen Sie seltener.“ Und das ist auch vollkommen richtig. Der einzige Haken ist, dass der Patient solche Sätze oft als Floskel wahrnimmt und sich nicht wirklich häufiger bewegt. Er benötigt eine wirkliche Motivation, sich tatsächlich öfters zu bewegen. Und hier kommen Videogames ins Spiel. Bei uns machst du dein Training aus einer anderen Intention heraus: Du machst diese Bewegung nicht, weil ein Arzt, Therapeut oder die Krankenkasse gesagt hat „Mach das“, sondern weil du im Videospiel irgendwo gegen fährst, wenn du diese und jene Bewegung nicht richtig ausführst. Und das willst du nicht, denn du möchtest das Spiel gut spielen. Das ist im Prinzip die Grundidee.
Menschen mit Gaming helfen – was macht das mit dir persönlich, diesen Ansatz gefunden zu haben und diese Berufung umzusetzen?
Es macht mich glücklich und dankbar, dass ich beruflich etwas tun kann, was alle meine Interessenfelder und Motivationen abdeckt. Meine Arbeit hat einen gesellschaftlichen Mehrwert und sie macht Spaß – auch weil das Spielen dabei nie zu kurz kommt. Gleichzeitig ist es eingebettet in technologischen und wissenschaftlichen Fortschritt. Also ich lebe eigentlich ein sozial adäquates Geek-Leben und kann mich darüber nur freuen.
Du warst unter anderem an der Yale University und auch in Cambridge. Wie haben diese Stationen deinen Blick auf Videospiele geprägt?
Geprägt haben mich weniger die Universitäten, sondern die Menschen, die ich auf meinen Stationen getroffen habe. Allen voran Daniel Liebeskind: ein Weltarchitekt, der Architektur mit Musik, Malerei und Literatur verbindet. Bei ihm habe ich gelernt, dass jede Unterscheidung zwischen verschiedenen Kunstformen und Kulturtechniken, die wir treffen, artifiziell sind. Und Games sind halt so cool, weil sie diese Vorstellung von einem Gesamtkunstwerk, das wir kulturhistorisch schon immer hatten, komplett verinnerlicht. Heute muss man meiner Meinung nach sagen: Das moderne Computerspiel ist die höchste Form vom Gesamtkunstwerk – quasi die Oper von heute. Du hast Musik, du hast Raumgestaltung, du hast Literatur, du hast Narrative, also Theater beispielweise – und all diese Kunstformen kommen in einem guten Game zusammen.
Welche Herausforderungen stehen für die Zukunft an?
Ein Phänomen wie Demenz hält sich ja an keine sozioökonomischen, politischen oder religiösen Grenzen, also darf es unser Angebot auch nicht. Und das führt zum nächsten Punkt: Wir diversifizieren, wir internationalisieren und stellen uns regelmäßig die Frage, wie unser Geschäftsmodell aussieht. Wie schaffen wir es, uns finanziell so aufzustellen, dass wir wachsen und uns weiterentwickeln und gleichzeitig anschlussfähig an das Gesundheitswesen sind. Ein großer Punkt hierbei ist die Frage der Kostenübernahme. Und deshalb ist es so schön für uns, dass wir neben Microsoft zu Technologiefragen, Charité und Humboldt-Uni zu wissenschaftlichen und therapeutischen Fragen und die Barmer als größte deutsche Kranken- und Pflegekasse als Partner haben. Gemeinsam mit diesen Partnern wird in nächster Zeit evaluiert, wie man Retro Brain allen Versicherten zur Verfügung stellen kann.
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