Schon ganz zu Anfang, als wir uns zum ersten Mal Gedanken über die Welt machten, die am Ende in Luna Abyss zustande kam, hatten wir eine klare Vision. Art Director Harry Cor und Creative Director Benni Hill von Bonsai Collective starteten mit einer Wundertüte voller Ideen und Einflüssen sowie mit einer Grundvorstellung, wie das Spiel aussehen und wie die Story verlaufen sollte – und all diese Inspirationen und Vorstellungen hatten im Anfangsstadium Einfluss auf den Aufbau der Spielwelt. Diese Vision, die wir damals hatten, ist auch heute noch ein zentrales Element in dem Spiel, das am Ende dabei herausgekommen ist.
Bei der Entwicklung der Welt von Luna Abyss standen die mit Bedacht festgelegten Kernkonzepte im Mittelpunkt, von wo aus dann die Welt langsam, aber stetig um weitere Elemente erweitert wurde – mit den ersten Blockouts (grobe Level-Umrisse), den wichtigsten Story-Entwicklungen und der Kerntruppe von Figuren, die dieser Story Leben einhauchen sollte. Jedes gute Bauwerk benötigt ein solides Fundament. Bei uns war das eine gewaltige Megastruktur im Stil des Brutalismus, ein Himmel im Inneren eines künstlichen Mondes, befremdlich genug, um das Interesse zu wecken und die Vorstellungskraft anzuregen. Wie sind wir hier gelandet? Wo ist überhaupt hier? Das sind die Fragen, die sich unser Protagonist stellt, und wer wäre besser dazu geeignet, sie zu beantworten, als ein ständig präsenter, herumschwebender, körperloser Kopf …?
Wie also kann man etwas so Gewaltiges wie einen so fremd anmutenden Mond in ein Korsett zwängen, das die Charaktere zusammenbringt? Und wie kann man ihre Geschichte am besten erzählen?
Lenny Ilett, Charakter-Designer bei Bonsai Creative, hat dazu Folgendes zu sagen: „Wir begannen mit der Zelle. Das ganze Spiel dreht sich um die Achse der Zelle, weshalb es uns ziemlich wichtig war, die Charaktere in der Zelle klar zu definieren, damit wir etwas mit ihnen anfangen, ihnen eine Geschichte geben konnten.“ Für unsere Hauptcharaktere – Protagonist Fawkes und Gefängniswärter Aylin – ist die Zelle der Ort, an dem ihre wichtigsten Interaktionen miteinander stattfinden. Außerdem steht dieser Ort für Transition, sowohl buchstäblich als auch in der Geschichte, denn Fawkes kehrt zwischen den Missionen dorthin zurück, um sich auszuruhen und die Geschehnisse des Tages zu verarbeiten. Er diente uns als nützlichen Wegpunkt, um die Beziehung zwischen diesen beiden Figuren zu entwickeln. Wie würden sie an einem Ort miteinander umgehen, der ihnen physische Nähe aufgrund des Platzmangels geradezu aufzwingt, im Vergleich zu ihren Interaktionen in der weitläufigen Spielwelt, wo ihre Rollen klarer festgelegt sind?
Das Grafikerteam und das Autorenteam tauschten sich immer wieder untereinander aus und gaben sich Feedback, um die Charaktere zu entwickeln. Fawkes und Aylin wurden schon früh in der Entwicklungsphase zu den Hauptcharakteren auserkoren, aber im Laufe der Zeit, als die Welt immer größere Ausmaße annahm, wurde es auch notwendig, die Riege der Figuren zu erweitern, damit wir die Geschichte erzählen konnten, die uns vorschwebte. Hierbei arbeiteten Grafiker und Autoren erneut Hand in Hand. Urien Caldecott, die das Internet liebevoll „Axtkatze“ getauft hat, ist ein gutes Beispiel dafür. Dieser Charakter existierte lange nur als Konzept auf dem Papier, bevor daraus ein tatsächlich ausgearbeiteter Charakter wurde. Lenny beschreibt den Vorgang der Charaktervisualisierung wie das Bearbeiten eines Blocks aus Marmorstein. Die Charaktere nehmen anhand ihrer Dialoge oder ihrer Hintergrundgeschichte nach und nach Form an. Zu Urien hat Lenny folgenden Kommentar: „Es stehen Worte auf einem Blatt Papier und die versucht man, zum Leben zu erwecken, aber wie stellt man das an? Darüber muss man sich wirklich Gedanken machen.“
Aber es gibt ja mehrere Prozesse, die man alle gleichzeitig berücksichtigen muss. Einige unserer NPCs waren zu Beginn einfache Charaktermodelle, biomechanische „Wärter“ ähnlich dem, den Fawkes kontrolliert, die in allerlei sonderbaren und wunderbar abgedrehten Formen daherkommen. Lenny erklärt, dass diese Wärter durch ständige Iteration entstanden sind, indem Charakterdesigner und Animationskünstler immer wieder Ideen austauschten, damit die Designs am Ende auch vernünftig als dreidimensionales Modell dargestellt werden konnten. Dazu haben sich die Designer häufig von der echten Welt inspirieren lassen. Lenny führt als Beispiel einen ganz bestimmten Wärter an, der anfangs noch menschenähnliche Beine hatte, dann aber letztendlich doch eher wie ein Känguru aussah, um besser das Gleichgewicht halten zu können. Auf ähnliche Weise hat sich Animationskünstlerin Marie Trystad beim Animieren von Aylins abnormal langem Hals an den Bewegungen von Schlangen orientiert. Und das hatte wiederum Auswirkungen auf das Sounddesign. Die Spieler werden im Laufe des Spiels in den Auen auf eine bestimmte Figur treffen, die ein glorreiches Amalgam aus Ideen des ganzen Teams ist, von Marie zum Leben erweckt wurde und von Sounddesignerin Sarah Sherlock noch mehr Persönlichkeit verliehen bekam. Unsere Charaktere sind wirklich eine Teamleistung.
Damit sich unsere NPCs auch außerhalb von Fawkes Reichweite und Wahrnehmung wie echte, lebendige Personen in einer großen, bevölkerten Welt anfühlten, mussten wir unter anderem zuerst die konzeptionelle Kluft zwischen Maschine und menschlicher Seele darin überwinden. Es war uns wichtig, diesen Charakteren ihre eigenen, in sich geschlossenen Geschichten zu geben, die sich zwar mit der von Fawkes überschneiden, aber auch auf eine Welt deuten, die nichts mit der zu tun hat, die die Spieler erleben auf die sie direkt Einfluss nehmen können. Als wir für diese Charaktere dann Modelle entwickelten, hatten wir das Gefühl, dass wir und auch die Spieler verstehen müssen, warum sie gerade diesen bestimmten Wärtern innewohnten. Welche Charaktereigenschaften könnten dazu führen, dass eine Person diesem einen Typ zugeteilt wird und nicht einem anderen, und was bedeutete dies für die einzelnen Charaktere? Durch diese Kernfrage begannen wir selbst, mehr von der Welt zu verstehen, die wir geschaffen hatten. Die Ergebnisse unserer Bemühungen finden sich in den ergänzenden Hintergrundinformationen, die in der ganzen Spielwelt verstreut sind.
Als diese Charaktere ein Eigenleben entwickelten, erschien es uns wichtig, dass sie sich auch optisch klar voneinander unterscheiden sollten – und zwar nicht nur aus praktischen Gründen, damit man sie in der Masse der unterschiedlichen Wärter im Abyss einfach identifizieren konnte, sondern es kam uns auch vernünftig vor, dass diese Individuen, die alle eine eigene Persönlichkeit und eine eigene Identität hatten, sich auch auf irgendeine Weise äußerlich von allen anderen abheben wollten. Autoren und Grafiker waren hier erneut gefragt – und es war gleichzeitig ihre wichtigste Aufgabe. Ich tauschte mich regelmäßig mit unseren Animationskünstlern Waseem Shaheed und Marie Trystad aus. Wir stellten einander Fragen und schickten uns Hintergrundgeschichten zu, um besser verstehen zu können, wer diese Charaktere waren – und somit auch, wie sie sich bewegen würden. Das wiederum hatte Einfluss auf die Persönlichkeiten der Figuren, die sich durch ihr Verhalten oder die Feinheiten bei ihren Bewegungen herauskristallisierten. Mit Lenny und Art Director Harry Corr habe ich auf ähnliche Weise zusammengearbeitet, um – soweit uns das möglich war – Elemente der Persönlichkeit durch das optische Erscheinungsbild zu vermitteln. Wir legten unserer Arbeit zugrunde, dass diese Charaktere in ihren biomechanischen Körpern gefangen waren, aber gerade deswegen nach Wegen suchen würden, sie an ihre Vorlieben anzupassen.
Wir wollten von Anfang an eine Charakterriege mit den unterschiedlichsten Persönlichkeiten. Fawkes, unser Protagonist, ist non-binär und wir haben uns entschieden, dass das kein Thema war, über das diskutiert werden musste, kein Dilemma, über das intensiv nachgedacht werden musste. Wir wollten auch verschiedenste Ethnien, Sexualitäten und Geschlechteridentitäten ins Spiel bringen, um die gelebte Realität der Mitarbeiter im Studio zu reflektieren. Uns war es wichtig, all diese Dinge zu normalisieren und sie in die Welt einzuflechten, weshalb wir auch die dazu passenden Sprecher engagierten, die diesen Charakteren ihre Stimmen leihen sollten. Visuell standen wir vor der Herausforderung, wie wir bestimmte Aspekte dieser Identitäten auf realistische Weise darstellen konnten, nachdem die Körper der Wärter ja allesamt nichtmenschlich waren. In anderen Fällen entschieden wir uns bewusst, mit kognitiver Dissonanz zu spielen – zum Beispiel bei zwei männlichen Cisgender-Charakteren, die in weiblich kodierten Körpern hausen. Letztendlich erlaubten wir den Charakteren selbst, unsere Hand zu führen.
Und zu guter Letzt legten wir auch noch eine Bibliothek mit Hintergrundwissen an, das die Spieler auf ihrer Reise durch die Spielwelt finden können. Die einzelnen Einträge ergeben nach und nach einen Kodex – mehr ein Archiv als eine umfangreiche Enzyklopädie – mit Briefen, Tagebucheinträgen und anderen Fenstern in das Leben der Bewohner von Luna, die den Erfahrungen von Fawkes Kontext verleihen. Das Endergebnis ist hoffentlich ein kleiner Blick in eine Welt, die bereits 200 Jahre, bevor Fawkes zum ersten Mal Fuß auf den Blutmond gesetzt hat, untergegangen ist.
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